Texte

Nanne Meyer, Katalogtext zu Selected Artists, Berlin 2009

Taktstriche: Zu den Zeichnungen von Ingo Fröhlich

Drawings are done with a point that moves.
Philip Rawson

Zeichnen, das zeichnende Befragen der Funktionen und Möglichkeiten dieses Mediums, hat Ingo Fröhlich mit und neben seiner bildhauerischen Arbeit immer beschäftigt. Zeichnen ist in den letzten 10 Jahren zum Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit geworden und hat nach dem Verlust seines linken Augenlichts für ihn noch einmal eine neue Bedeutung gewonnen.

„Was zeichne ich, wenn ich nichts zeichne ?“

Diese Frage, die Ingo Fröhlich seinem dreibändigem Kompendium „linien, striche & kritzeleien“ voranstellt, stellt sich quer zum Anspruch der traditionellen Zeichenkunst etwas zu zeichnen, etwas, das sich auf die sichtbare Welt bezieht.

Das, was Ingo Fröhlich in seiner Frage mit „nichts“ bezeichnet, ist nichts weniger als das Zeichnen selbst. Der Prozess des Zeichnens ist sein Thema. Ihn interessiert nicht das, was schon da ist, was man beobachten und zeichnend nachvollziehen kann, sondern das, was (noch) nicht da ist, was man (noch) nicht sehen kann, was erst beim Zeichnen entsteht, und damit erst Teil der sichtbaren Welt wird.

In diesem Sinne stelle ich seine Frage noch einmal etwas anders: Was zeichnet Ingo Fröhlich, wenn er das Zeichnen zeichnet?

Er zeichnet Striche und Linien, die Striche und Linien sind, ihre Dichte, Länge, Beschaffenheit, ihre Formen.

Er zeichnet Strichstärken im Verhältnis zum Format, den Rhythmus, die Materialisierung von Zeit, die Geschwindigkeit und deren Auswirkung auf den Strich. Zeichnen ist für ihn Tätigkeit, Prozess, Spur, Variation, Denken, gedankenloses Denken, einfach, direkt, unmittelbar, persönlich.

Das Alphabet der Zeichnung ist der Strich bzw. die Linie. Die Linie ist die Spur einer Bewegung, der man ansieht, wie sie gezogen wurde: schnell oder langsam, kräftig oder flüchtig. Die Mittel sind einfach: Papier, Bleistifte, manchmal auch Stempel oder Schablonen.

Zeichnen ist komplex: es gibt eine Vorstellung, eine Vorgabe im Kopf, die von dort über die Bewegung der Hand auf dem Papier Gestalt annimmt. Ein Feld wird im Kopf abgesteckt, ein Blatt Papier wird auf den Tisch gelegt. Sind die Parameter entschieden, entstehen die Zeichnungen in einem rhythmischen Prozess. Strich um Strich, Linie um Linie füllen sie die Fläche, thematisieren Bewegung, Zeit und Zwischen-Raum. „Monotone Handlung als zeichnerisches Prinzip“ nennt Ingo Fröhlich seine Vorgehensweise. Seine Zeichnungen zeigen, was sich beim Zeichnen ereignet. Jeder Strich, jede Linie ist Spur einer Empfindung.

Was wird gezeichnet:

„kreuz und quer – vertikal gestreift – punktvergrößerung – springende striche – verstrickter strich – geschichtete striche – taktstriche – strichströmung – kreuzfolgen – schneckenlinie – verbindende linienführung – hängende bündel …“

Eine Auswahl aus der Liste von ca. 120 Vorgaben aus Ingo Fröhlichs: „linie, striche & kritzeleien“, ein Versuch anhand von Beispielen die Vielfältigkeit von Strich- und Linienführungen in einem dreibändigen Bücherwerk vergleichend zu systematisieren.

Hier wird deutlich, was für Ingo Fröhlich Prinzip ist: Als ob er sich immer wieder vergewissern müsste, dass bei gleicher Vorgabe und Vorgehensweise nie zwei identische Zeichnungen entstehen können, werden immer mehrere, mindestens aber zwei Blätter nach der gleichen Vorgabe gezeichnet. Es ist der lebendige Prozess beim Zeichnen, das Abenteuer der Vielfalt in der Wiederholung, die Unterschiedlichkeit im scheinbar Gleichen.

Zwei scheinbar gleiche Zeichnungen: ob einfache Schraffuren, wellenartige Netze oder feine vibrierende Strichgebilde, sie fordern zu schweifendem Sehen bei gleichzeitig differenziert vergleichender Betrachtung heraus.

Ingo Fröhlichs Zeichnungen entstehen in einem Prozess, der einerseits obssesiv, andererseits höchst differenziert ist. Die große Anzahl an Zeichnungen, die unter der Prämisse von Reduktion, Einfachheit und Wiederholung entstehen, verlangen nach Ordnung und Systematisierung. Unter dem Titel „Zeichnung, Sammlung, Archiv“ baute Ingo Fröhlich im Jahr 2000 Jahren einen hölzernen Container mit einzeln herausziehbaren Tableaux, die postkartengroße Zeichnungen, nach Vorgaben geordnet, in strengem Raster vergleichend präsentierten. Mit diesem Archiv wurde nicht nur eine Untersuchung des Strichs in der Zeichnung systematisch entfaltet, es wurden außerdem Zeichnung und Objekt, Schwere und Leichtigkeit, Strich und Raum, Gedanke und Material zu einer komplexen Gesamtheit zusammengefügt.

Diese Präsentationsform hat Ingo Fröhlich für diese Ausstellung noch einmal aufgegriffen.

Die herausziehbaren Tableaux, in denen jeweils zwei Zeichnungen vergleichend gezeigt werden, können nur einzeln im Nacheinander angeschaut werden und ermöglichen so den Betrachtenden, sich konzentriert auf die Unterschiedlichkeit des scheinbar Gleichen einzulassen.

Ingo Fröhlich ist ein obsessiver und zugleich feinsinniger Künstler, der das Material, mit dem er arbeitet, ernst nimmt indem er es immer wieder neu durchspielt und variiert: Die Eigenschaften von Strich und Linie, Bewegung, Zeit und Raum.

Raum ist die Fläche, auf denen sich seine Zeichnungen ereignen: vom Postkartenformat über wandfüllende Papiere bis zu ganzen Räumen, bei denen auch Boden und Decke einbezogen werden.

„Zeichnen ist Zeitwahrnehmung und Zeitabbildung“ sagt Ingo fröhlich „Zeichnen erklärt mir die Welt“.

 

Nanne Meyer