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Erik Stephan, Katalogtext zur Ausstellung: „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“, Kunstsammlung Jena, 2015

Mit Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich haben sich zwei Künstler von ausgeprägter Eigenart auf ein gemeinsames Arbeiten und Ausstellen verständigt. „Dialog in Jena“ ist ein weiteres Kapitel in jener Folge von Kooperationen, die unter dem poetischen Titel „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“ im Jahr 2012 mit einer gemeinsamen Ausstellung begann. Die Arbeiten von Ulrike Seyboth, die mit expansiver Dynamik auf die Leinwände hinausdrängt und das Zusammenspiel der Farben im Raum erkundet, begegnen in der Jenaer Ausstellung den sensitiven, von Rhythmus und kalkuliertem Spiel bestimmten Zeichnungen von Ingo Fröhlich. Egal, ob sich die Bildräume in impressionistischer Fülle mitteilen oder die feinen Linien des Bleistiftes den Raum in Netze einweben, in beiden Fällen sind es Bewegungen, die in der Zeit sind und aus innerer Bewegtheit herrühren. In dieser Weise gepolt, ist das, was sich zunächst so gegenteilig entbietet, näher beieinander als dies der erste Blick offenbart. Bemerkenswert ist, dass Eigenarten, die in Form und Rhythmus eigentlich einander entgegen stehen sollten, sich in der Begegnung aufheben, übereinkommen und den Blick auf die Arbeiten des Anderen verändern. Die Spiegelung des Einen im Anderen verweist jedoch auf durchaus vergleichbare Ansätze und erlaubt zugleich einen Blick auf die Kraft und Fülle der individuellen Imaginationen.

Beide, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich, sind in ihren Werken fortgeschritten, authentisch und charakteristisch, so dass die Inanspruchnahme gemeinsamer Quellen den artistischen Dualismus wohl eher anfeuert als behindert. Die Natur, die man während gemeinsamer Arbeitsaufenthalte in Deutschland, Frankreich oder Island durchforscht und erfährt, steht am Beginn aller Werke, lenkt Gestaltbildung und künstlerische Transzendenz und wird in ihrem Wirklichkeitsbestand so weit reduziert, dass sie zur metaphorischen, formbaren Ursubstanz der Arbeiten werden kann. In dieser Weise losgelöst, behindert kein Vergleich mit der Wirklichkeit die freie Bildung der Zeichen, die, nun subjektiv und allein dem künstlerischen Empfinden verpflichtet, neu entstehen.
Dennoch unterscheiden sich beide Künstler durch Herkunft und Lebensweg ebenso deutlich wie durch die Formen und Temperamente ihrer bildnerischen Entäußerungen.

Da ist zunächst Ulrike Seyboth, die Malerin, deren Leinwände in nahezu impressionistischer Farbenfülle viel von der Entdeckungslust jener Maler haben, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Wirkung der Farben im Licht erkundeten und damit die Malerei nicht nur aus der kanonischen Wiederholung altbekannter Sujets, sondern auch zu neuen Freiheiten geführt hat. Diese neue Form der Gegenwärtigkeit löste die Malerei inhaltlich und formal von der Geschichte, ermutigte die individuelle Erregung und mündete in Formen, deren Gegenstandsferne durch Empfindung und Analyse gleichermaßen beglaubigt wurde. Das Sehen im Licht wurde beweglicher, die Naturwissenschaften lieferten Erklärungen und zerbröselten den Glauben an die Gültigkeit der ewigen, geschlossenen Form. Ulrike Seyboth knüpft hier an. Sie malt mit Leidenschaft aus der Fülle dessen, was sie aus innerer Eingebung und künstlerischem Vermögen erfährt. Der Skeptizismus, der die Impressionisten antrieb, ist nunmehr Geschichte, wenn auch eine mit bedeutsamen Folgen, die bis in die aktuelle Malerei nachwirkt, diese jedoch nicht bestimmt. Bei Ulrike Seyboth ist die Malerei kein Ereignis des Lichtes, vielmehr ist es eine Notation, die sich am Horizont unserer Zeit bricht und daher schön und zerrissen gleichermaßen daherkommt. Starke Lokalfarben wie Violett, Blau oder Grün winden sich spontan und kontrolliert zugleich über zumeist weißen Binnenräumen und heben die Valeurs. In feinen Stufungen mischen sich breite, weiche Pinselzüge mit zeichnerischen Notationen und über allem liegt ein sensitives Erleben für die werdende und sich wandelnde Form, die sich verknüpft und bindet, Beziehungen eingeht und immer vor allem eines wach verfolgt: eine künstlerische Form, die in ihrer Auffassung dem natürlichen Wachstum nahe ist und sich lebendig und energiegeladen über die Leinwand spannt. Dichte, oft spiralige Ausprägungen bilden Räume, wachsen zusammen, ballen sich in Clustern, die nervös vernetzt im Raum schweben und einer Ordnung folgen, deren immanente Geometrie sich so versteckt, wie das in weiten Bereichen der Natur der Fall ist. Die Elemente stehen im Gleichgewicht – in einem das sich verändert und für Überraschungen gut ist. Einige der Notationen gleichen sprachlichen Versatzstücken und belegen einmal mehr die Nähe der Zeichen zur Zeichnung. Die Synthese von zupackender Malerei und feinteiliger Zeichnung führt zu einem pulsierenden, dichten Gewebe, das zwar leidenschaftlich in Zentren aufleuchtet, sich jedoch in räumlicher Verbundenheit dem Bildganzen fügt.

Viele der Arbeiten entstanden auf Reisen oder während verschiedener Studienaufenthalte und verweisen auf den nachhaltigen Einfluss der Landschaften, deren Angebote Ulrike Seyboth regelrecht aufsaugt und in freudiger Mannigfaltigkeit der eigenen Formensprache anverwandelt. Es geht nicht um Abbildung, sondern um ein Gefüge freier, oft divergierdender Zeichen, deren Strahlkraft unbenommen bleibt, sich jedoch organisch dem Bildganzen fügt.

Das Werk Ingo Fröhlichs ist das eines Zeichners. Er porträtiert weder Menschen noch Städte, sondern er untersucht die Natur, fragt nach ihrer Wirklichkeit und sucht nach Formen, die das Sichtbare verallgemeinern. In seiner Eigenart ist er konsequent und folgt Strich um Strich einem Werk, das aus der Wahrnehmung der Natur lebt, sich jedoch in der künstlerischen Umsetzung auf eigene Formen verlässt. Auf diese Weise wird geschaute Natur von einer Schöpfung ersetzt, die in der Regel eine inspirierte und zugleich eigentümlich konkrete Erfindung ist. Einige dieser Arbeiten zeigen Pflanzen in großen Formaten, die, exakt wie Porträts, die Wahrnehmung abbilden, aber eben doch erfunden sind. Es spricht für den feinen Humor des Künstlers, der nicht nur die reale Welt, sondern auch die von ihm geschaffene als eine von vielen Möglichkeiten begreift, die uns das Leben in Fülle anbietet. Die Exaktheit der Zeichnung, die fast enzyklopädische Reihung in Folgen schärft die Genauigkeit, die sich durch die konsequente Beschränkung auf den Bleistift noch steigert und genau dadurch die Möglichkeiten des Bildes erschöpft. Vieles von dem, was Ingo Fröhlich zeichnet, laviert in diesem Grenzbereich des bildnerisch Möglichen und verweist auf die Grenzen der Erkenntnis. Die Arbeiten zielen auf das Essenzielle, auf das Wesen, die Struktur der Dinge, die Ingo Fröhlich immer monochrom erfasst und in einer neuen, eigenen Verarbeitung auf großen Büttenpapieren darstellt.

Vor allem dann, wenn Ingo Fröhlich auf Wände zeichnet, sind die Arbeiten deutlich abstrakter, reine Schöpfung, ornamental aber beweglich. Diese Beweglichkeit ist vielen Arbeiten eigen. Sie ist zudem eine Eigenheit des Natürlichen, die jedoch auch ohne gegenständliche Anlehnung auskommt und als Analyse oder Geheimnis betrachtet werden kann. Möglicherweise hat Ingo Fröhlich gerade hier das, was er der Natur abschaut, auf die Spitze getrieben, indem er es von seiner Gegenständlichkeit befreit und als eine Ahnung des Zeichenlosen in eine konkrete Anschauung zwingt. Das, was dabei entsteht, ist eine Paradoxie, denn die Bilder, die sich einstellen, verlieren sich und überlassen neuen ihren Platz. Vielleicht liegt aber auch gerade darin eine versteckte Bosheit der Natur, sich exakter Betrachtung zu entziehen und vermeintliche Gewissheiten ins Leere laufen zu lassen. Auch bei vielen kleineren Arbeiten, etwa den zahlreichen kleinteiligen Zeichnungen der Installation „strichundumgebung” umkreist Ingo Fröhlich das Thema der Sichtbarkeit und ersetzt Abbilder durch bildnerische Erfindungen, die, nicht zuletzt durch ihre Fülle, einem privaten Mikrokosmos gleichen. Dabei wird sichtbare Natur zwar berührt, aber immer wieder durch imaginative Formen ersetzt. Poesie und Analyse finden gerade hier zu besonders schönen Mischformen, offenbart doch diese Arbeit einige der Grundprinzipien, die sich aus der Fülle der bildnerischen Darstellungen im Zettelformat erschließt. Zettelkästen helfen nicht nur dem Autor, sondern befördern auch das Verständnis der größeren, ausgearbeiteten Werke. Gerade in dieser skeptizistischen Grundhaltung, die der bindenden Anerkennung des Gegebenen entflieht, liegt ein besonderer Reiz der Arbeiten, der weit über das rein Formale hinausgeht. Eine künstlerische Intuition erklärt sich nicht als Fußnote gegenständlicher Erkennbarkeit, sie bleibt ein Angebot, ein offenes, vieldeutiges und einladendes allemal. Essenziell in seiner Wachheit für werdende und sich wandelnde Formen ist Ingo Fröhlich einigen Prinzipien der Natur nahe. Gerade die Betonung des Momentes, die Aufhebung von Verbindlichkeiten, steigert die sensible Anmut dieser Blätter.

Die Werke von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich unterscheiden sich zwar deutlich, sind jedoch durch viele der beschriebenen Eigenarten enger miteinander verzahnt, als man dies im ersten Moment vermutet. Auch wenn die Arbeiten in getrennten Ateliers entstehen, so fließen doch die Ideen beider in die Konzeption der Ausstellungen ein, die dadurch zu einem inspirierten und inspirierenden Wechselspiel werden und die Arbeiten beider befördern. Gerade dann, wenn zwei Individualisten sich auf das Werk des jeweils Anderen einlassen, liegen Spannungen und Erfüllungen oft dicht beieinander, wobei ein Sich-Erfüllen aus der Andersartigkeit sicher dauerhaften Gewinn verspricht.

 

Erik Stephan